Das Moskauer Konservatorium in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

20.–24.9.2016

Konservatorium P.I. Čajkovskij Moskau

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Tagungsprogramm


Aleksandra Savenkova


Anlässlich seines 150-jährigen Bestehens veranstaltete das Moskauer Konservatorium »P.I. Čajkovskij« Ende September 2016 eine Konferenz mit vier HauptrednerInnen und etwa einhundert in zwei parallelen Sektionen gehaltenen Vorträgen. Die Mehrzahl der Vortragenden kam aus Moskau, in den allermeisten Fällen waren es LehrerInnen der gefeierten Institution sowie des Gnessin-Instituts, der zweitwichtigsten professionellen Musikausbildungsstätte am Ort. So trat Valentina Cholopova, die Grande Dame der russischen Musikologie, die das musikologische Departement des Konservatoriums leitet, mit einem Vortrag über die Bedeutung und die nationale und internationale Verbreitung der vom Moskauer Konservatorium ausgegangenen Forschung auf. Wie die vom Čajkovskij-Konservatorium begründete Moskauer Schule auf die weitere Umgebung der Stadt und des Landes ausgestrahlt hatte, ließ sich an der Herkunft einer beachtlichen Zahl geladener auswärtiger Vortragender ablesen. Darunter waren viele aus den ehemaligen Sowjetrepubliken angereist – Armenien, Aserbaidschan, Litauen, Republik Moldau, Ukraine, Kasachstan, Turkmenistan und Weißrussland –, deren Musikkulturen seit den 1930er Jahren bis in die Gegenwart entscheidend von AbsolventInnen des Moskauer Konservatorium geprägt wurden. Daneben waren Vortragende aus früheren ›Bruderländern‹ der Sowjetunion wie Polen, Bulgarien, auch Serbien und aus weiteren russischen Städten wie Ufa, Saratov, Rostov, Jekaterinburg, Novosibirsk, Omsk und Perm zu hören. Die Herkunftsorte der Vortragenden spiegeln mit wenigen Ausnahmen der Einflusssphäre des Konservatoriums wider. Dass nur ein einziger Vortrag von einem Mitglied des Sankt Petersburger Konservatoriums »N.A. Rimskij-Korsakov« auf dem Programm stand, ist wohl auf das bekannte Konkurrenzverhältnis zwischen den beiden prominenten Institutionen zurückzuführen. Dennoch nahmen mit Vortragenden aus Frankreich, Österreich, Hong Kong, Belgien und England auch Vortragende von außerhalb des geradlinigen Wirkungskreises des Konservatoriums teil; aus Italien, Schweden, Japan, den USA und wiederum aus England waren AbsolventInnen des Konservatoriums angereist.

Die Vorträge widmeten sich in der überwiegenden Zahl der Geschichte und Gegenwart des Konservatoriums sowie dem Wirken seiner AbsolventInnen und ProfessorInnen. Dass – insbesondere von Elena Guvakova, der Leiterin des Glinka-Museums, und von Raissa Trushkova, der Leiterin des Konservatoriumsarchivs, – viele bisher der Öffentlichkeit unzugängliche Archivmaterialien präsentiert wurden, ist für die internationale Forschung ein gutes Zeichen und weist auf sich allmählich verbessernde Forschungsbedingungen in Moskau hin. Die zwei parallelen Sektionen der Konferenz waren folgenden sechs Themenbereichen gewidmet: »Das Moskauer Konservatorium – Regionen Russlands – fremde Länder«; »Einblicke in die Vergangenheit (aus der Sicht des 21. Jahrhunderts)«; »Zum 135. Geburtstag von Nikolaj J. Mjaskovskij – Professor am Moskauer Konservatorium«; »Aleksej F. Losev und die Kultur des Silbernen Zeitalters«; »Wissenschaftliche und künstlerische Schulen des Moskauer Konservatoriums« und »Musikalische Ausbildung gestern, heute, morgen«.

In letzterem Themenbereich wurden etliche Probleme der gegenwärtigen Musikausbildung sowohl in den theoretischen als auch in den praktischen Fächern zur Sprache gebracht. Skizziert wurden mögliche Weiterentwicklungen, deren breitere interdisziplinäre Perspektive die beruflichen Chancen künftiger AbsolventInnen verbessern sollen. Hatte die Lehranstalt bisher ein eher konservatives und traditionstreues Image, so ließ sich eine Veränderungen gegenüber offene und in die Zukunft weisende Stimmung dieser Diskussionen kaum überhören. Es wurden Parallelen zwischen der Musikausbildung in Russland und in anderen Ländern gezogen, einerseits Vergangenes resümierend, andererseits auf die heutige Situation bezogen. So zeigte Nikola Komatovič (Belgrad/Wien) auf, inwieweit der Moskauer Musiktheorieunterricht dem in Jugoslawien seit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg lange Zeit als Modell gedient hatte, jedoch mit westlichen Ansätzen vermischt wurde. Aleksandra Savenkova (Wien) verglich aktuelle Strömungen des musiktheoretischen Unterrichts am Moskauer Konservatorium und an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Der Rezeption sowjetischer Musiktheorie außerhalb der Sowjetunion und des heutigen Russlands widmete sich Cheong Wai-Ling (Hong Kong). Sie listete die Stationen auf, die das auf Russisch in den 1930er Jahren erschienene und überwältigend erfolgreiche sogenannte ›Brigaden-Lehrbuch‹ in China passierte. Diese von vier Lehrern des Moskauer Konservatoriums, der ›Theoriebrigade‹, verfasste Harmonielehre war in den 1950er Jahren in einer ersten Übersetzung ins Chinesische erschienen und spielte bei den Diskussionen um die Nationalisierung der mehrstimmigen Musik in der Volksrepublik Chinas eine entscheidende Rolle.

Um Jurij Nikolaevič Cholopov (1932–2003), den großen Moskauer Musiktheoretiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ging es in einem Vortrag von Gražina Daunoravičienė (Vilnius). Während seiner Habilitationsphase hatte sich Cholopov nach Litauen begeben, um hier in größerer Unabhängigkeit forschen zu können. Diese Phase sowie spätere Aufenthalte Cholopovs in Litauen wurden anhand von Dokumenten aus litauischen Archiven und aus der privaten Sammlung Daunoravičienės vorgestellt. Die Aufgabenstellungen und einzelne Lösungen eines russlandweiten, nach Cholopov benannten Wettbewerbs für Musiktheorie, Musikgeschichte und Komposition, an dem junge MusikfachhochschülerInnen Russlands teilnehmen können, portraitierte Grigory Lyzhov (Moskau). Der Wettbewerb erleichtert den GewinnerInnen die Aufnahme eines Musiktheoriestudiums am Moskauer Konservatorium. Der zweite Vortrag Lyzhovs war Petr N. Meščaninov (1944–2006) gewidmet. Als Pianist hatte er – der Ehemann Sofia Gubaidulinas – sich um die Interpretation der Musik des 20. Jahrhunderts verdient gemacht, hier aber stand seine originelle, um nicht zu sagen eigenbrötlerische Musiktheorie im Zentrum. Meščaninov versuchte die Evolution von Musiksprache mathematisch zu beschreiben, seine Theorie, die seinerzeit ohne Wirkung blieb, liegt auch heute noch weitgehend im Dunkeln. Ähnlich unbekannt blieb der sogenannte ›Metrotektonismus‹ des Moskauer Theoretikers Georgij Konjus (1862–1933). Den Gründen dafür, warum die erste Nummer der Zeitschrift Musiktheorie 1986 mit einem Quellentext von Konjus eröffnet wurde, ging Gesine Schröder (Wien/Leipzig) nach, indem sie die politikaffinen musiktheoretischen Auseinandersetzungen im Westdeutschland der 1970er und 1980er Jahre rekonstruierte. Zu den Vorträgen, die sich den InterpretInnen unter den Lehrern des Moskauer Konservatoriums widmeten, gehörte Maria Razumovskayas (London) Darstellung des Weges von Heinrich Neuhaus (1888–1964). Der aus einem ukrainischen Teil des Zarenreichs stammende Neuhaus war nach Studien in Berlin und Wien und einer frühen Professur in Kiew 1922 nach Moskau gelangt und hatte dort eine der bedeutendsten Pianistenschulen des 20. Jahrhunderts begründet.

Anders als im westlichen Teil Europas steht die russische Musikologie und Musiktheorie der Philosophie nahe, insbesondere deren Teilbereichen Logik und Ästhetik. So verwundert es nicht, dass dem Neo-Platoniker und seinerzeit in Russland höchst umstrittenen Ästhetiker Aleksej Fedorovič Losev (1893–1988) immerhin zehn Vorträge gewidmet waren. Andreij Michailovič Lesovičenko (Novosibirsk) sprach über Losevs Ideen zu einem musikalischen Kanon, das literarische Werk Losevs untersuchte Konstantin Anatol’evič Šabinskij (Rostov), und natürlich kam in sämtlichen Losev gewidmeten Vorträgen auch dessen Mystizismus zur Sprache. Konstantin Zenkin, der Leiter des Graduiertenkollegs des Moskauer Konservatoriums, dem auch die inhaltliche Planung der Konferenz oblag, stellte sein soeben erschienenes Buch vor, eine auf erst neuerdings zugänglichen Dokumenten beruhende Gesamtdarstellung von Losevs Wirken.

Besonders interessant war eine Sektion, in der StudentInnen und AspirantInnen ihre Studien präsentierten. Über die Tätigkeit einer in den 1950 Jahren aus politischen Gründen aufgelösten forschenden Gesellschaft, zu der so namhafte Denker wie Boris Asaf’ev, Boleslav Javorskij, Lev Masel, Sergej Skrebkov, Pavel Lamm, Olga Levašova, Maxim Brašnikov, Vera Wassina-Grossmann oder Jurij Keldiš zählten, berichtete Xenia Drovaleva (Moskau). Anhand zahlreicher Beispiele machte Akichisa Yamamoto (Japan) deutlich, inwieweit die frühen Werke Mjaskovskijs noch von Aleksandr Skrjabin geprägt waren. Ob dem Schaffen Mjaskovskijs vom Anfang der 1930er Jahre verbal nicht explizierte »symphonische Handlungen« zugrunde liegen, versuchte Artem Semenov (Moskau) zu beantworten. Eine musikalische Analyse, Äußerungen des Komponisten und anderes Material führten Semenov zu der Vermutung, dass die 13. und die 14. Symphonie Mjaskovskijs als ein Zyklus konzipiert gewesen seien. Als einen kompositorischen Dialog der zweiten russischen Avantgarde mit der Wiener Schule stellte Vladislav Tarnopolski die Kammersymphonie op. 21 von Nikolaj Nikolaevič Karetnikov (1930–94) dar. Das Werk kann als ein Spiegel der Symphonie op. 21 von Anton Webern verstanden werden. Karetnikov, der bei dem Berg- und Webern-Schüler Philip Herschkowitz (Filip Herșcovici, 1906–89) studiert hatte, unterrichtete nach seiner Emigration in die Sowjetunion im Jahre 1940 selber viele russischen Avantgardisten. Mehr als 30 Jahre lang komponierte Karetnikov zwölftönig und entwickelte die Technik dabei auf vielerlei Weise weiter. »Harmonietimbre« – was dieser von Vladimir Tarnopolski (*1955) geprägte Begriff meint, erklärte Christina Agaronyan anhand von dessen Ensemblestück Kassandra (1991): Tarnopolski erfindet hier verschiedene klangliche Gestalten, für die die Klangfarbe des Ensembles untrennbar mit der Konstellation der Tonhöhen verbunden wird. Das Harmonietimbre bildet darüber hinaus das wichtigste architektonische Prinzip der Klangkomposition, es verleiht ihr eine individuelle Dramaturgie.

Die Konferenz wurde von zwei Ausstellungen zu ehemaligen Lehrern des Konservatoriums begleitet: einer Ausstellung zum 110. Geburtstag von Dmitrij Dmitrievič Šostakovič und einer weiteren zum 135. Geburtstag von Nikolaj Jakovlevič Mjaskovskij. Ausgestellt wurden zudem Publikationen von Lehrern des Konservatoriums, u.a. zu dessen Geschichte, und eine CD-Anthologie, welche am Konservatorium einstudierte russische Folklore dokumentiert. Zum Rahmenprogramm gehörten zwei Konzerte, davon eines mit elektroakustischer Musik. Es zeigte sich, dass die musikalische Praxis in diesem Bereich auch aufgrund einer nicht gerade opulenten technischen Ausstattung eher in den Anfängen steckt. Abgerundet wurde die Konferenz mit einem Orchesterkonzert im Großen Saal des Konservatoriums, der – vor über einhundert Jahren gebaut – kürzlich beeindruckend restauriert wurde. Programmiert wurden u.a. auch die Stücke des Jubilars Mjaskovskij.